Lucie Varga
Historikerin, Pionierin als Ethnologin und Soziologin, Erfinderin der Mentalitätsgeschichte
Ihr Bezug zu Baden:
geboren in Baden als Rosa Stern
1904 – 1941
Nach dem Besuch der fortschrittlichen Privatschule der Genia Schwarzwald studierte sie Geschichte und Kunstgeschichte und schrieb ihre Doktorarbeit über die Entstehung des Schlagworts vom „finsteren Mittelalter“.
1933 emigrierte sie nach Paris und lernte den Historiker Lucien Febvre kennen. Sie begann wissenschaftliche Artikel über die Hintergründe des Faschismus und Nationalsozialismus für seine berühmte Zeitschrift „Annales“ zu schreiben. Sie erforschte den Hexenglauben im ladinischsprachigen Südtiroler Enneberg, untersuchte die durch den aufkommenden Tourismus und den aufkeimenden Nationalsozialismus gesellschaftspolitischen Veränderungen im Montafon. Sie beschrieb den Verlust der Religion und dessen Ersatz durch die „politische Religion“ des Nationalsozialismus.
Was ihre Arbeiten so einzigartig und innovativ macht, ist die Tatsache, dass sie erstmals zwei Forschungsfelder miteinander verband: die Geschichtswissenschaft und die Ethnologie. Sie beschäftigte sich mit Sozialgeschichte, als diese noch nicht etabliert war.
Ihre persönliche Geschichte nahm einen tragischen Verlauf. Ihre anerkannte wissenschaftliche Arbeit in Paris nahm ein abruptes Ende, als die Ehefrau Febvres hinter die Liebesbeziehung ihres Mannes mit Lucie Varga kam und auf einem Abbruch der Beziehung bestand. Lucie Varga verlor ihren Job, musste sich und ihre Tochter aus erster Ehe als Fabrikarbeiterin und Vertreterin von Küchengeräten durchbringen. Nach dem Einmarsch der Deutschen in Frankreich 1940 floh sie in die Nähe von Toulouse, wo sie in bitterer Armut lebte. Im Winter 1940/41 verschlechterte sich ihre Zuckerkrankheit dramatisch. Wegen der unregelmäßigen und schlechten Ernährung, der mangelhaften Versorgung mit Insulin und der falschen Diagnose eines Dorfarztes, der eine illegale Abtreibung vermutete und sie deshalb erst viel zu spät ins Krankenhaus einliefern ließ, starb sie im Alter von nur 36 Jahren im diabetischen Koma.
Lucie Varga gehört zu jener Gruppe von Geschichtswissenschaftlerinnen, die von der Frauenforschung als „unsichtbare Historikerinnen“ bezeichnet werden. Umso mehr sei sie hier mit ihren interessanten Beiträgen erwähnt.
Werke:
- Das Schlagwort vom „finsteren Mittelalter“. Rohrer, Baden, Leipzig, Brünn, 1932
- Zeitenwende: mentalitätshistorische Studien 1936−1939. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1991
- Aufsatz: Soziale Analyse der sozialen Verhältnisse im Montafoner Tal in Vorarlberg, Wien 1937
Rosa Stern
die Vergangenheit leuchtet
aus der Ferne die Erinnerung
ist immer
von Männern gemacht
weißt du übst
andere Sichtweisen
für die Menschen
von morgen:
Lucie Leichtkind
(Sophie Reyer)
von Beate Jorda, Sophie Reyer
Quellen: http://www.quart.at/bibliothek/alle_ausgaben/nr_19_12/hexenglaube_enneberg_1936
Ingrid Runggaldier: „Frauen im Alltag“, Edition Raetia, Bozen 2013, Seiten 161 – 166.
Hanno Loewy, Gerhard Milchram, Hrsg: „Hast du die Alpen gesehen?“ Eine jüdische Beziehungsgeschichte. Bucher Verlag 2010, Seiten 218 – 239.